ALFRED VON WALDERSEE

Alfred von Waldersee wurde am 8. April 1832 in Potsdam geboren. Er entstammte einer preußischen Adelsfamilie, in der viele männliche Familienmitglieder ranghohe preußische Offiziere waren. So schlug auch er eine militärische Laufbahn ein. Von 1866 an hatte von Waldersee mit einigen Unterbrechungen Offiziersstellen bei verschiedenen hannoverschen Armeeverbänden inne. Zu dieser Zeit stieg er bereits zu einem der wichtigsten Generäle des jungen deutschen Kaiserreichs auf. Gemeinsam mit seinem direkten Vorgesetzten Helmuth Graf von Moltke entwickelte von Waldersee Pläne für einen Zwei-Fronten-Präventivkrieg gegen Russland und Frankreich. Dieser Angriffsplan wurde zwar vom Parlament wie auch von Bismarck jahrzehntelang abgelehnt, bildete im späteren Schlieffen-Plan allerdings die Grundlage für den Ersten Weltkrieg. 

Unter Kaiser Wilhelm II. avancierte von Waldersee zwischenzeitlich zu Moltkes Nachfolger und Chef des Generalstabs und somit zum mächtigsten Militär des Deutschen Reiches. Nachdem er 1891 dieses Amt abgeben musste, weil er es gewagt hatte, bei der größten Truppenübung, dem sogenannten Kaisermanöver, Kaiser Wilhelm zu besiegen, verlegte er seinen Lebensmittelpunkt endgültig nach Hannover. Hier wohnte er in der Villa Waldersee in der Hohenzollernstraße 40, die er selbst hatte errichten lassen. Auch in Hannover hatte von Waldersee hohe militärische Funktionen inne und blieb weiterhin politisch aktiv. So forderte er etwa repressivere Maßnahmen bis hin zum Einsatz des Militärs gegen die Sozialdemokratie, weil diese nach seiner Auffassung die größte Gefahr für das Deutsche Kaiserreichs darstellte.

Ab 1899 kam es in China in den von Deutschen besetzten Gebieten zum sogenannten Boxerkrieg, bei dem Kämpfer der Yihetuan (Bewegung der Verbände für Gerechtigkeit und Harmonie) Angriffe auf Ausländer:innen und chinesische Christ:innen verübten. Kaiser Wilhelm II. rehabilitierte den betagten Feldmarschall von Waldersee und beauftragte ihn damit, den Boxerkrieg niederzuschlagen. Bei der Verabschiedung der Truppen in Bremerhaven hielt Kaiser Wilhelm die sogenannte Hunnenrede, in der er die ausreisenden Soldaten zum gnadenlosen Vorgehen gegenüber dem chinesischen Widerstand aufrief:

„Kommt Ihr vor den Feind, so wird er geschlagen. Pardon wird nicht gegeben, Gefangene nicht gemacht. [...] Wie vor tausend Jahren die Hunnen unter ihrem König Etzel sich einen Namen gemacht, der sie noch jetzt in der Überlieferung gewaltig erscheinen läßt, so möge der Name Deutschlands in China in einer solchen Weise bekannt werden, daß niemals wieder ein Chinese es wagt, etwa einen Deutschen auch nur scheel anzusehen.“1

Als von Waldersee mit seinem Expeditionskorps im August 1900 in Peking eintraf, waren die Yihetuan allerdings schon von alliierten Kräften (vor allem britisch-indischen, russischen und japanischen Soldaten) geschlagen und Peking geplündert worden. 

Ohne militärischen Nutzen plünderten und brandschatzten die Truppen von Waldersees die Stadt erneut. Sie rafften alle möglichen Kulturgüter zusammen, um diese in der Heimat zu verkaufen. Gemeinsam mit den alliierten Truppen führten von Waldersees Soldaten im Anschluss 75 „Strafexpeditionen“ gegen sogenannte „Boxernester“ durch, um angeblich den letzten Widerstand zu brechen. Bei ihren Operationen kam es reihenweise zu Morden, Vergewaltigungen, Plünderungen, Folter und Massakern, die vor allem die von Kaiser Wilhelm geforderte Abschreckung zum Ziel hatten.

Die zügellosen Gewalttaten der deutschen Soldaten wurden auch von ausländischen Zeitzeugen, wie dem australischen Journalisten George Ernest Morrison kritisiert. Er schrieb in der britischen Times am 14.08.1900: 

„The massacre began. Waldersee openly ordered his officers to punish China severely. Cries of fear erupted as the city was strewn with corpses. People recalled later: the foreigners killed countless people the day they entered the city.”2  

Ein beteiligter amerikanischer Befehlshaber kritisierte die Militäraktionen mit den Worten: 

„Man kann mit Sicherheit sagen, dass auf einen wirklichen Boxer, der getötet wurde, fünfzehn harmlose Kulis und Landarbeiter, unter ihnen nicht wenige Frauen und Kinder, kamen, die erschlagen wurden.“3

Auch im Deutschen Reich gab es mitunter deutliche Kritik. So wies der SPD-Abgeordnete August Bebel darauf hin, dass sich diese Art von Rachefeldzügen über Generationen in die Herzen der Chines:innen graben würde:

„ [...] es ist ein ganz gewöhnlicher Eroberungskrieg und Rachefeldzug und weiter nichts, eine Exekution, wo Rache geübt werden soll, die mit einem regelrechten Kriege nicht das allermindeste zu tun hat. Da ist der Name Krieg wirklich zu anständig dafür; was hier passiert, ist ein gemeiner Rachefeldzug. [...] die Art der Kriegsführung, das gräbt sich auf Jahrhunderte von Generation zu Generation in die Herzen der Massen der chinesischen Bevölkerung ein.“4

Auch aus den Briefen einiger Soldaten lässt sich Kritik herauslesen und sogar von Waldersee selbst schildert in einem Brief an den Major z. D. Scheibert die Verrohung seiner Soldaten.

„Sie wissen, was noch alles mit Plündern zusammenhängt und wie schnell der Mensch zur Bestie wird. Das ist hier gründlich geübt worden. Von der Mündung des Peiho über Tientsin bis Tungschou und dazu bis Peking ist die Kriegsfurie hingezogen, es sind da alle Städte und Dörfer - allerdings ist der Streifen nur schmal – völlig niedergebrannt. Tientsin, das eine Million Einwohner hatte, zum guten Drittel. Tongha hatte 50.000, Tungschou 150.000, so dass nach sehr mäßigen Schätzung 500.000 Menschen obdach- und brotlos geworden sind. [...] Und nun das massenhafte Erschießen von Boxern oder solchen, die in Verdacht stehen, es zu sein, mit dem jedes Mal das Abbrennen des Dorfes verbunden ist. Der Soldat muss hier schnell verrohen!"5

Das Verhalten der kaiserlichen Truppen stieß durch die Berichte auch im deutschen Kaiserreich auf viel Kritik vor allem aus linken politischen Kreisen. Gerade die Abgeordneten Paul Singer und August Bebel sowie später auch Rosa Luxemburg kritisierten die deutschen Gräueltaten scharf.6 Der SPD-Abgeordnete August Bebel verlas im Parlament Heimatbriefe von Soldaten, in denen die grausamen Gewalttaten beschrieben wurden.7 Unter dem Vorwand, die Zivilisation zu schützen, hätten die Soldaten gegen alle humanitären Grundsätze verstoßen. Viele konservative und nationale Abgeordnete verteidigten allerdings das Handeln der deutschen Soldaten in China, und auch eine breite öffentliche Debatte blieb aus,8 obwohl die Briefe im November 1900 in der SPD Zeitung Vorwärts abgedruckt wurden, sodass die Gewalttaten nicht völlig unbekannt geblieben sein konnten.9 

Die Härte und Unnachgiebigkeit, aber vor allem auch die Demütigung Chinas wurden schließlich im sogenannten „Boxerprotokoll“ festgehalten, welches China auch weiterhin die Unabhängigkeit absprach. Das „Boxerprotokoll“ kann als eine Art Friedensvertrag bezeichnet werden, in dem Handelsöffnungen, vor allem aber weitere Demütigungen festgehalten wurden. So sollte sich beispielsweise der chinesische Prinz Chun in Berlin persönlich bei Kaiser Wilhelm mit einem Kniefall entschuldigen, was für die chinesische Monarchie eine nicht hinnehmbare Erniedrigung darstellte.10 

Waldersee und seine Soldaten brachten unzählige Kulturschätze als Raubkunst mit ins Deutsche Reich, die bis heute sowohl im Besitz privater Sammler:innen, aber auch in zahlreichen Museen, zu finden sind. Im August 1901 kehrte von Waldersee als großer Held in die ihm zu Ehren mit Girlanden geschmückte Villa in der Hohenzollernstraße zurück. Hier lebte er noch bis zu seinem Tode am 5. März 1904. Für seine militärischen Erfolge wurde er mit zahlreichen Orden und, als erster Protestant überhaupt, sogar vom Papst ausgezeichnet. Auch in Hannover wurde von Waldersee mehrfach geehrt: Im Jahr 1900 erhielt er die Ehrenbürgerschaft der Stadt, 1904 wurde ein Teil der Hohenzollernstraße nach ihm benannt und 1915 schließlich auf Betreiben von Stadtdirektor Tramm das Walderseedenkmal errichtet. 

Wegen von Waldersees brutalem Vorgehen in China ist seit 2013 und vermehrt seit Ende 2020 wieder eine Diskussion über die Umbenennung der Walderseestraße entbrannt. Dies gestaltet sich jedoch formal besonders schwierig, weil die Walderseestraße durch mehrere Stadteile führt und daher der Stadtrat Hannover für eine Umbenennung zuständig wäre.

von Malin Kleuker


1 o.A.: Hunnenrede, URL: https://de.wikipedia.org/wiki/Hunnenrede. [Zuletzt aufgerufen am: 29.03.2022, 14:08 Uhr].
2 China Central Television, www.cctv.com/lm/176/71/71821.html.
3 Thompson, Larry Clinton (2009): William Scott Ament and the Boxer Rebellion. Heroism, hubris and the "ideal missionary". Jefferson, NC: McFarland & Co. S. 199-204. Übersetzung des Zitats von Hamburg Postkolonial 2012.
4 August Bebel, Rede vor dem Reichstag vom 10.11.1900 (www.kopfwelten.org/kp/orte/taku/index.html).
5 Brief von Waldersee an Major z.D. Scheibert https://www.boxeraufstand.com/1900/dezember_1900.htm.
6 Vgl. Wielandt, Ute/Kaschner, Michael (2002): Die Reichstagsdebatten über den deutschen Kriegseinsatz in China: August Bebel und die Hunnenbriefe. In: Susanne Kuß und Thoralf Klein (Hg.): Das Deutsche Reich und der Boxeraufstand, S. 188ff.
7 Vgl. ebd., S.185ff.
8 Vgl. ebd., S. 188f.
9 Eine Analyse dieser sogenannten Hunnenbriefe findet sich bei Wielandt/Kaschner S. 194f.
10 Schlussendlich konnten chinesische Diplomaten erreichen, dass Prinz Chun zwar einen entschuldigenden Kniefall in Berlin vornehmen musste, allerdings nicht direkt vor Kaiser Wilhelm. 
 


Quellen und Links

Printquellen:

AK Hamburg Postkolonial (2012): Dossier Waldersee. Anlage zum Antrag auf Aberkennung der Ehrenbürgerwürden für Alfred Graf von Waldersee in Hamburg und Hamburg-Altona. Hamburg. Online verfügbar unter www.hamburg-postkolonial.de/PDF/WalderseeDossierOkt2012.pdf, zuletzt geprüft am 03.02.2021.

China Central Television (cctv): Eyewitnesses to History (2). Calamity in the Forbidden Cit. Peking. Online verfügbar unter www.cctv.com/lm/176/71/71821.html, zuletzt geprüft am 08.01.2021.

Kuß, Susanne; Klein, Thoralf (Hg.) (2002): Das Deutsche Reich und der Boxeraufstand. München: Iudicium Verlag.

Leutner, Mechthild (Hg.) (2001): Deutsch-chinesische Beziehungen im 19. Jahrhundert. Mission und Wirtschaft in interkultureller Perspektive. Münster, Hamburg, London: Lit (Berliner China-Studien, 38).

Leutner, Mechthild (2008): Takustraße (Takuplatz, Takufeld), Iltisstraße, Lansstraße: Bausteine einer kolonialen Erinnerungskultur. Kopfwelten.org. Online verfügbar unter www.kopfwelten.org/kp/orte/taku/index.html, zuletzt aktualisiert am 27.03.2008, zuletzt geprüft am 08.01.2021.

Madsack, Emil (1915). In: Hannoversche Anzeiger, 23.05.1915 (119).

Schubert, Dietrich (1982): Hoetgers Waldersee-Denkmal von 1915 in Hannover. In: Wallraf-Richartz-Jahrbuch: Jahrbuch für Kunstgeschichte.

Senatskanzlei Hamburg: Die umstrittene Ehrung des Grafen von Waldersee. Online verfügbar unter www.hamburg.de/ehrenbuerger/expertise/4654020/graf-von-walderseh/, zuletzt geprüft am 03.02.2021.

Spurny, Till (2008): Die Plünderung von Kulturgütern in Peking 1900/1901. Berlin: wvb, Wiss. Verl.

Thompson, Larry Clinton (2009): William Scott Ament and the Boxer Rebellion. Heroism, hubris and the "ideal missionary". Jefferson, NC: McFarland & Co.

Wielandt, Ute; Kaschner, Michael (2002): Die Reichstagsdebatten über den deutschen Kriegseinsatz in China: August Bebel und die Hunnenbriefe. In: Susanne Kuß und Thoralf Klein (Hg.): Das Deutsche Reich und der Boxeraufstand. 

Zimmermann, Helmut (1992): Die Straßennamen der Landeshauptstadt Hannover. Hannover: Hahn.

 

Links:

https://de.wikipedia.org/wiki/Hunnenrede

https://de.wikipedia.org/wiki/Hohenzollernstraße_40_(Hannover)

https://de.wikipedia.org/wiki/Waldersee-Denkmal

http://www.kopfwelten.org/kp/orte/taku/index.html

http://www.boxeraufstand.com/1900/dezember_1900.htm

https://www.haz.de/Hannover/Aus-den-Stadtteilen/West/Badenstedt-Lettow-Vorbeck-Allee-wird-umbenannt

https://www.haz.de/Hannover/Aus-der-Stadt/Black-Lives-Matter-will-Kolonial-Denkmaeler-in-Hannover-loswerden

https://www.haz.de/Hannover/Aus-der-Stadt/Walderseestrasse-in-Hannover-CDU-Chef-Oppelt-lehnt-Umbenennung-ab

https://www.haz.de/Nachrichten/Kultur/Hannover-Kolonialismus-und-der-Fall-Waldersee-was-wird-aus-Strasse-und-Denkmal

https://www.haz.de/Hannover/Aus-der-Stadt/Umbenennung-der-Walderseestrasse-in-Hannover-Vorerst-keine-Texttafeln