Fäden der Reflexion: Diedrick Brackens Ausstellung "everything I have ever touched" in der Kestner Gesellschaft, 04.03. – 04.06.2023

  • © Vanessa Ohlraun

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  • © Volker Crone

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Rezension von Jonas Döbler*

Kolonialität und Gender – mit diesen Begriffen beschäftigten sich eine interdisziplinäre Gruppe von Studierenden an der Leibniz Universität Hannover während des Sommersemesters 2023. Wenn die Ausstellung des afroamerikanischen Künstlers Diedrick Brackens betreten wird, sind in den gewebten Teppichen diese Themen erkennbar.

In seinen Werken, welche durch ihre enorme Größe an mittelalterliche Tapisserien erinnern, behandelt Brackens Themen wie Zärtlichkeit, Erotik und Gewalt. Dies wird bewerkstelligt durch die Verflechtungen von Schwarzer Geschichte und Identität, Queerness und Gayness. Ein grundlegendes Element in der Kunst Brackens ist das Auftauchen und Aufbrechen von Mythen und christo-normativen Narrativen. Die Ausstellung in der Kestner Gesellschaft everything I have ever touched ist seine erste europäische Solo-Ausstellung.

Der Grundstoff Baumwolle dient Brackens als Ausgangsmaterial für seine Kunstwerke. Er bezeichnet das Weben der Baumwolle als „Hommage“ an diejenigen Menschen, die vor ihm kamen und anders mit dem Material gearbeitet haben oder arbeiten mussten. Die Materialität der Baumwolle stellt eine Verbindung zur transatlantischen Versklavung Schwarzer Menschen (Maafa) her. Der Begriff Maafa ist ein afrozentrischer, widerständiger Begriff, der aus dem Kiswahili entspringt, einer Sprache, die 80 Millionen Menschen sprechen. Er bedeutet „Katastrophe, große Tragödie“ oder „schreckliches Ereignis“ und wurde durch die Aktivistin Marimba Ani in ihrem Buch Let the Circle be Unbroken: Implications of African Spirituality in the Diaspora (1994) geprägt. Mit dem Maafa-Begriff wird es möglich, die Interdependenzen von Versklavung, Kolonialismus und Unterdrückung innerhalb der 500-jährigen Geschichte weißer Gewalt aufzuzeigen. Weiterhin wird durch ihn die Perspektive für plurale Widerstandsformen von Schwarzen Menschen in afrikanischen Gesellschaften und der afrikanischen Diaspora geöffnet.

In seinen Kunstwerken verbindet Brackens Elemente von Kente-Stoffen der Akan- und Ewe-Gesellschaften (Ghana/Elfenbeinküste/Togo), die Quilting-Techniken des US-amerikanischen Südens und die Kunstform der Tapisserien des europäischen Mittelalters. Besonders spannend dabei ist, dass die Kente-Weberei eher männlich gelesenen Personen vorbehalten ist und das Quilting eher von weiblich gelesenen Personen betrieben wird. Somit verflechtet Brackens genderstereotype Arbeitsbereiche und weicht normative Genderbarrieren auf. Eine weitere Komponente, die Brackens in seine Werke einfließen lässt, sind die US-amerikanischen Freedom Quilts des 19. Jahrhunderts. Diese dienten versklavten Menschen in den USA auf dem Weg in die Freiheit als Informationsquelle. Die sogenannte Underground Railroad, ein Netzwerk von Personen, die diesen Individuen auf der Flucht halfen,  kommunizierte durch die Verwendung von eingewebten, codierten Nachrichten und informierte die freiheitssuchenden Menschen über Gefahren oder Aufenthaltsmöglichkeiten.

Die aufgestickten schwarze Silhouetten, die sich in fast allen Werken Brackens finden, symbolisieren Schatten und Haut. Durch das Aufsticken werden die Figuren herausgelöst, um das Unterbewusstsein anzusprechen. Die schwarzen Silhouetten ermöglichen ein Eintauchen in eine magisch-realistische Welt. Angelehnt an Audre Lordes Zami: A New Spelling of My Name, A Biomythography (1982) verbindet Brackens Mythos, Geschichte und Biografie, um queere Subjektivität zu schaffen und sein Inneres in den Vordergrund zu stellen. Hierzu nutzt Brackens häufig christliche Narrative. Zum einen setzt er Queerness als Mittelpunkt in diesen christlichen Erzählungen, da Bereiche der Kirche queere Lebensentwürfe unterdrücken und nicht mitdenken. Weiterhin wird durch das Einfügen von Queerness in diese Narrative bewirkt, dass diese christo-normativen Erzählungen verändert und neue Perspektiven eröffnet werden.

Einer der Ansätze, die Brackens mit seinen Werken verfolgt, besteht darin, den Interpretationsspielraum möglichst weit zu halten, um so mit den Fragen, die sich daraus ergeben, die Sichtweisen der Rezipient*innen zu öffnen und normative Kategorien und Vorstellungen aufzuweichen bzw. aufzulösen. Das Werk survival is a shrine, not the small space near the limit of life, zum Beispiel, ist in dunklen Blautönen gehalten. Geometrische Formen, die an einen Stern oder eine Box erinnern, rahmen eine schwarze, hockende Silhouette ein, die ihre Arme kraftvoll austreckt. Der blaue Hintergrund könnte den Ozean symbolisieren, über den Schwarze Menschen während der Maafa in die Versklavung verschleppt wurden. Der Stern könnte als Nordstern interpretiert werden. Der Weg in die Freiheit führte versklavte Menschen in den Norden, genauer gesagt nach Kanada, da die amerikanischen Nordstaaten Schwarze Menschen, die sich aus der Versklavung befreien konnten, wieder in die Sklavenhaltergesellschaft des Südens zurückbrachten. Diese schwarze Silhouette haben wir in unserer Diskussion als sehr kraftausstrahlend wahrgenommen. Freiheit ist im Kontext der Versklavung mit einem Kraftaufwand verbunden. Nur äußere Freiheit ermöglicht innere Freiheit, so hat die Seminargruppe der Lehrenden Vanessa Ohlraun (Geschichtswissenschaft) und Natascha Rempel (Romanistik) vom Centre for Atlantic and Global Studies der Leibniz Universität Hannover dieses Werk interpretiert.

Das an mittelalterliche Einhorntapisserien angelehnte Werk to sooth the myth besticht durch seine enorme Größe. Zu sehen ist ein überdimensionales Einhorn, das sich gegenüber einer schwarzen Silhouette, auf den Hinterbeinen stehend, erhebt. Das Einhorn hat eine Verletzung am Bauch. Hier wird möglicherweise auf den Mythos des Einhornblutes als Heilmittel angespielt. Das Horn des Einhorns und das Gesicht der schwarzen Silhouette sind beide in grau gehalten. Angelehnt an Franz Fanons „Schwarze Haut, weiße Masken“ (1952) könnte hier die Identität als Kraftquelle gesetzt werden, denn dem Horn des Einhorns werden in der christlichen Mythologie erhebliche Kräfte nachgesagt. Eine weitere Interpretation in unserer Gruppe war, dass es sich hier um einen Identitätsfigur für Queerness handelt, da das Einhorn eine wichtige Figur innerhalb der LGBTQIA*-Community ist.

In fast allen Werken von Diedrick Brackens finden sich herunterhängende Fäden. Die Interpretationsmöglichkeiten unter den Rezipient*innen waren vielfältig. Zum einen könnte es sich, wie bei Kunstwerken, die mit Farben geschaffen werden, um die Andeutung herunterlaufender Farbe handeln. Eine Person unserer Gruppe sah in den Fäden, die aus den Silhouetten ragten, „Blut“, welches aus den Kunstwerken hervorquillt und entweichende Lebensenergie symbolisieren könnte. Der Ausstellungskurator Robert Knoke interpretierte die Fäden als Darstellung der Fragilität des Lebens oder der erzählten Geschichte. Die Betrachtenden brauchen nur an den Fäden zu ziehen und die Geschichte, das Kunstwerk, die Identität wird zerstört oder aufgelöst. Diese Geschichten und Identitäten, welche durch das koloniale Gewalt- und Unterdrückungssystem zum Schweigen gebracht wurden, gibt Brackens mit seinen Kunstwerken die Stimmen zurück.

Schwarze Räume müssen innerhalb der weißen Dominanzgesellschaft erkämpft werden. Das gleiche gilt für andere marginalisierte Gruppen. Wie die Journalistin Kübra Gümüşay (2020) sagt: „Nicht weil es so einfach wäre, sondern obwohl es so schwierig ist. Nicht weil alles ginge, wenn man nur wolle, sondern obwohl gewollt ist, dass es nicht geht.“

Die Tapisserien von Diedrick Brackens setzen die Schwarze queere Identität in den Vordergrund. Die Materialität Baumwolle lässt die Rezipient*innen in den Themenkomplex der Maafa eindringen und zeigt die schreckliche Vergangenheit der kolonialen Systeme des Westens und seiner Fortwirkung bis heute auf. Durch die Verwebung von Schwarzen Narrativen mit christo-normativen Mythologisierungen werden weiße Wissenssysteme herausgefordert, sichtbar gemacht und gebrochen. Dabei werden insbesondere in männlich sozialisierten, weißen Personen Emotionen wie Traurigkeit, Wut und Scham hervorgerufen, die zu einer Reflexion über rassismuskritisches Handeln führen können. Es gelingt dem Künstler, über die Vermittlung seiner persönlichen Erfahrungen in seinen Tapisserien mit den Ausstellungsbesuchenden in einen inspirierenden, zur Selbstreflexion anregenden Austausch zu treten.  

* Im Rahmen des Seminars „Kolonialität und Gender in der Afro-Lateinamerikanischen Welt“ der Centre-Mitglieder Vanessa Ohlraun (Historisches Seminar) und Natascha Rempel (Romanisches Seminar) haben Studierende der Geschichts-, Politik- und Sozialwissenschaft, der Romanistik und des Fachmasters Atlantic Studies die Kestner Gesellschaft in Hannover besucht. 
Das Blockseminar hat sich kritisch mit kolonialen und geschlechterspezifischen Diskursen auseinandergesetzt, die bis heute Vorstellungen von Geschlechterrollen und sozialen Hierarchien in den Amerikas und der Karibik bestimmen. Anhand ausgewählter Beispiele wurde betrachtet, wie sich unterschiedliche Akteur*innen afrodeszendenter Herkunft mit dem Paradigma Afro-Lateinamerika und der damit einhergehenden Diversität der Amerikas, aber auch mit kollektivem Trauma und Marginalisierung auseinandergesetzt haben. Im Fokus standen dabei intellektuelle, künstlerische und aktivistische Interventionen verschiedenster spanisch- und englischsprachiger Regionen, die kolonial bedingte patriarchale Machtasymmetrien und Vorurteile hinterfragt und dekonstruiert haben.
Die Ausstellung everything I have ever touched des Künstlers Diedrick Brackens (1989, Texas) knüpft an die im Seminar behandelten Themenkomplexe an. Sie lassen sich in vielen Wandteppichen Brackens wiederfinden, die der Künstler aus einem US-amerikanischen, Schwarzen und queeren Kontext heraus bearbeitet und verhandelt hat. Der Student Jonas Döbler hat diese Rezension zu der ersten Solo-Ausstellung von Diedrick Brackens in Europa verfasst.
Die Dozentinnen und der Kurs bedanken sich bei Dr. Julia Meier und der Kestner Gesellschaft für die gelungene Zusammenarbeit.